Kurzbericht: Vortrag von Oliver Vrankovic
Vorweg: Der Vortrag "Israel: Leben in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft" fand am 25. Mai 2018 statt, so dass neuere Entwicklungen nicht berücksichtigt werden konnten. Da dies ein Kurzbericht ist, lassen sich Vereinfachungen und Auslassungen hinsichtlich der Zuordnungen von Herkunft und politischer Richtung nicht vermeiden, Oliver Vrankovic selbst hat die verschiedenen Gruppierungen ausführlich beschrieben und die Zuordnungen begründet.
Vrankovic stellte seinem Vortrag voran, dass die israelische Einwanderergesellschaft das Gegenteil jeder Projektion ist, die Israel als Modell für Einwanderung widerspruchsfrei erklären möchte. In der Geschichte Israels gab es schwere Diskriminierung, aber auch die erfolgreiche Emanzipation der Mizrachim, die die Mehrheit der israelischen Bevölkerung ausmachen. Unter der Selbstbezeichnung Mizrachim finden sich nicht nur die aus arabischen Ländern stammenden Juden und deren Nachfahren, sondern auch die die persischen, bucharischen, kurdischen, indischen und aus Äthiopien eingewanderten Juden sowie die Sepharden, ursprünglich aus Spanien stammend und jahrhundertelang in Nordafrika lebende Einwanderer, die zusammen die Mehrheit der israelischen Gesellschaft bilden.
Bei der Gründung Israels aus der Arbeiterbewegung heraus wurde multikulturellen Aspekten keine Beachtung geschenkt, das Ziel war vielmehr der Aufbau eines sozialistischen Landes. Neuankömmlinge wurden dorthin geschickt, wo Bedarf gesehen wurde, meist in entlegene Gegenden, weder Qualifikationen noch die Geschichte der oft gebildeten Einwanderer aus arabischen Ländern berücksichtigt. Für die damalige israelische Regierung stand außer Frage, dass Israel sozialistisch bleibt, der sozialistischen Führung kam es darauf an, alle Einwanderer nach den Idealen des Sozialismus einzubinden und zu erziehen, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Dabei kam es nicht nur zu Diskriminierung hinsichtlich Bildungsniveau und Können, sondern auch zu schweren Übergriffen gegen die Mizrachim. Beispielsweise wurden irakische Juden bei der Einwanderung mit DDT abgespritzt. Die hierdurch verursachten gesundheitlichen Schäden, die Demütigung und das resultierende Trauma wirken jahrzehntelang nach. Eine Diskussion dieser und anderer Arten der Diskriminierung fand lange nicht statt, erste Versuche, Diskriminierung zu thematisieren, wurden gerade von linken Entscheidern, auch im Kulturbetrieb, lächerlich gemacht. Diese (andauernde) Verachtung gerade von links vergaßen die Mizrachim nicht, und sie war und ist ein Grund, warum die Mehrheit der Mizrachim bis heute „rechts“ wählt. Der politische Umschwung von einer bis dato links geführten Regierung nach rechts begann mit der Wahl Menachim Begins 1977, die ohne die Mizrachim nicht möglich gewesen wäre.
Durch die Wahl Begins wurden sich Mizrachim und Öffentlichkeit erstmals bewusst, welche Macht und welches Potential die Mehrheit der Einwanderer darstellten. In der Folge emanzipierten sich die verschiedenen Einwanderergruppen, ihre Geschichte wurde diskutiert, die Schulbücher wurden geändert, um verschiedene Aspekt der Geschichte des jungen israelischen Staates aufzunehmen. Heute ist die Kultur der Mizrachim allgegenwärtig, sie dominiert die Musik und andere kulturelle Bereiche. Mittlerweile sind Mizrachim auch an allen relevanten Stellen des Staates vertreten, so war es sicher kein Zufall, dass äthiopische Juden durch einen sephardischen Oberrabbiner anerkannt wurden und damit das Recht auf Rückkehr (nach dem israelischen Rückkehrgesetz) erlangten.
Obwohl ein zunächst nach sozialistischem Modell aufgebauter, säkularer Staat, wird das Familienrecht in Israel nach wie vor an die Religionsgemeinschaften delegiert, zum Beispiel behandeln die neun vom Staat alimentierten Schariagerichte jährlich ca. 36.000 Fälle. Auch das Schulsystem lässt sich in vier Kategorien einordnen, säkular, religiös, arabisch und jüdisch- orthodox. Letzteres ist einer der größten Kritikpunkte beim Thema Integration, denn das so angelegte Schulsystem zementiert die Trennung zwischen den einzelnen Gruppierungen. Dabei werden mittlerweile vor allem streng Orthodoxe als Bedrohung für die Entwicklung der israelischen Gesellschaft aufgefasst, da sie sich separieren und oft den israelischen Staat oder Teile des Staates ablehnen. Ein Umstand, der von der Mehrheitsbevölkerung immer weniger akzeptiert wurde und letztlich zur Änderung der Armeegesetze führte. Seit 2014 müssen auch orthodoxe Männer Armeedienst leisten, der bis dato nur für die Mehrheit der israelischen Juden, sowohl für Männer als auch Frauen, verpflichtend war. Während Drusen und Tscherkessen ebenfalls zum Dienst verpflichtet sind, melden sich immer mehr Christen und Beduinen freiwillig. Viele Angehörige der als arabische Christen bezeichnete Minderheit wehren sich jedoch gegen diese Zuordnung, denn sie sehen sich eher als Teil der Mehrheitsgesellschaft der Mizrachim und bezeichnen sich nicht als Araber, sondern als Aramäer. Lange ignoriert, erkennt die israelische Armee inzwischen die Loyalität dieser Minderheit in der Mehrheit an und versucht sie aktiv für den Militärdienst zu gewinnen. Aber auch in der arabisch-muslimischen Minderheit Israels wächst die Loyalität gegenüber einem Staat, der palästinensischen Arabern im Gegensatz zu den arabischen Nachbarstaaten die vollen Bürgerrechte gewährt. So sprechen sich mittlerweile einige Araber wie Mohammad Zoabi und dessen Mutter Sarah Zoabi öffentlich gegen die Anschläge durch islamische Extremisten in Israel aus, und obwohl sie deswegen angefeindet werden, zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der arabischen Bevölkerung Gewalt mittlerweile ablehnt. Vrankovic schlussfolgert, dass israelische Araber für die Hamas verloren sind, ein Zeichen der Hoffnung für die Zukunft Israels.
Ein Teil der Erfolgsgeschichte Israels ist die Thematisierung der Probleme. Die Diskriminierung der Mizrachim wird heute offen diskutiert, neuere Skandale wie zum Beispiel das Wegschütten von Blutspenden äthiopisch-stämmiger Einwanderer bleiben nicht mehr folgenlos. Die israelische Gesellschaft begreift sich als multikulturell, Entscheidungsträger aus allen Bevölkerungsgruppen sind selbstverständlich geworden. Auch das Thema der religiösen Gerichte wird kontrovers diskutiert, die Abschaffung der religiösen Gerichte ist eines der wichtigsten Anliegen israelischer Feministinnen. Zwar geben weiterhin 98 Prozent der Israelis an, nur Freunde der eigenen Religionszugehörigkeit zu kennen, doch bei einem Drittel aller Ehen kommen die Partner inzwischen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die Mizrachim sind also nicht nur zahlenmäßig die Mehrheit, sie haben es trotz Diskriminierungserfahrung geschafft, ihre Identität zu finden und mit dieser die israelische Gesellschaft zu prägen und nachhaltig zu verändern.